Das evangelikale Denkmal Bolsonaros bröckelt

Deutschlandfunk / 22.10.2022 / Link

Tausende Gläubige sind an diesem Abend hierher gekommen. In den Megatempel einer bekannten Pfingstkirche in Rio de Janeiro. Im Stadtteil Penha, im vergleichsweise armen Norden der Stadt. Die christliche Vorband bringt die Gemeinde in Stimmung. Über riesige Video-Leinwände und Lautsprecherboxen. Die Menge ist aufgestanden und schwingt im Takt zur Musik.

Atmo-Gesang wird wieder lauter, dann wieder leiser

„Nicht immer ist es hier so friedlich wie an diesem Abend. Es ist Wahlkampf-Zeit in Brasilien. Und die meisten Pfingstkirchen hoffen auf die Wiederwahl des amtierenden rechten Präsidenten Jair Bolsonaro. Aber der liegt in den Umfragen seit Monaten hinten. Deshalb schalten einige Pastoren in den Angriffsmodus. Während der Gottesdienste machen sie Wahlkampf für „ihren Präsidenten“ Bolsonaro. Und gegen seinen Herausforderer, den Ex-Präsidenten Lula da Silva.

O-Ton Pastors Ruben Lima (Assembleia de Deus de Botucato, São Paulo
Und die Gläubigen, diejenigen, die für Lula stimmen werden,denn er wird den Armen helfen. Er ist für Abtreibungen! Er ist gegen die Bibel! Wir dürfen nicht für ihn stimmen!

Diese Form des Wahlkampfs in Gottesdiensten ist eigentlich verboten. Laut Wahlgesetz drohen Geldstrafen von bis zu 1800 Euro. Aber bislang wurde kein Pastor bestraft. Einige Pfingstkirchen-Prediger sehen das als Freibrief, um „ihren Präsidenten“ nach vorn zu bringen.

O-Ton 3, Pastor Wesley Cavalho (Tocantins)

„Ich hatte eine Vision. Eine Armee von Dämonen stand vor den Toren Brasiliens. Und Gott sprach: „Sag meinem Volk: Wenn sie das Land den Linken übergeben. Dann wird sich das Tor zu den Dämonen öffnen.“ Und sag ihnen auch, sie sollen sich nicht beschweren, wenn sie dann Hunger haben. Wenn ihre Söhne nach Hause kommen und sagen: „Papa, ich will einen Mann heiraten“.

Im traditionell katholischen Brasilien sind die Pfingstkirchen inzwischen eine echte Größe. In etwa zehn Jahren dürften sie mehr Mitglieder haben als die katholische Kirche. Sie sind besonders religiös, besonders konservativ und besonders erfolgreich: In den letzten Jahren eröffnete, statistisch gesehen, ein neues evangelikales Gotteshaus pro Stunde. Präsident Bolsonaro ist auf sie angewiesen. Sie könnten ihm rund 25 Prozent aller Wählerstimmen verschaffen. Auch hier im Tempel der „Assembleia de Vitoria em Jesus” in Rio ist er der Wunschkandidat:

O-Ton 4 Gläubige

„Bolsonaro“,
„Bolsonaro“,
„Bolsonaro“
„Ich wähle die Regierung, damit sie weiter für Stabilität sorgt. Dem Land geht’s gut. Dem trockenen Nordosten geht’s gut. Dort hat Bolsonaro Wasser hingebracht durch die Umleitung des Rio Sao Francisco“, sagt zum Beispiel der 62 Jahre alte Joseu Coelho.“


Aber selbst hier, in seiner Kernwählerschaft, sind nicht alle für Bolsonaro:

O-Ton 5, Priscilla Costa

„Ich hab‘ mich noch nicht für einen Präsidenten entschieden. Ich würde eigentlich gern ‚ungültig‘ wählen. Aber das bringt ja auch nichts. Ehrlich gesagt: Ich hoffe auf jemanden, der die Sache anders macht.“


sagt die 40 Jahre alte Priscilla Costa. Sie gehört zu den konservativen Frauen in den Pfingstkirchen, die bei der letzten Wahl Bolsonaro gewählt haben. Dieses Mal aber zögern. Das zeigt sich auch in den Umfragen: Laut jüngsten Umfragen würde Bolsonaro unter Evangelikalen nur noch jeder zweite wählen. Das sind 20 Prozent weniger als bei der letzten Wahl. Ein Grund: die wirtschaftliche Misere des Landes nach vier Jahren Bolsonaro.

O-Ton 6, Soziologe Mateus Fereira

„Die Mehrheit unter ihnen sind Frauen. Es sind vor allem nicht-weiße Frauen aus den Vorstädten.“

Sagt der Soziologe Mateus Fereira, der zu Bolsonaros Erfolg unter den evangelikalen Gläubigen geforscht hat.

Und diese Frauen spüren die wirtschaftliche Krise am eigenen Leib. Denn sie müssen jeden Tag das Essen auf den Tisch bekommen.“


Ein weiterer Grund: Vielen Gläubigen geht die Politisierung ihrer Kirche zu weit.

O-Ton 7, Soziologe Matheus Fereira

„Auch wenn sie die größte Wähler*innengruppe für Bolsonaro sind – politisch sind sie nicht alle derselben Meinung. Und wenn ein Gläubiger in die Kirche geht, will er da nichts über Politik hören. Er will etwas hören über sein Leben, etwas Persönliches.“

In Pfingstkirchen wird viel über Erfolg im Leben gepredigt, über den Aufstieg von arm zu reich, manchmal wie in einem Motivationsseminar. Kampfesreden gegen den politischen Gegner sind da eher unüblich. Nur in einer von vier Predigten ging es in den letzten Wochen um Politik, wie eine große Tageszeitung in São Paulo recherchiert hat. Möglich, dass Pastor Malafaia deshalb einige der rund 6.000 Gläubigen verschreckt hat, als er vor den Wahlen Bolsonaro hier in den Tempel einlud. Dabei machte Malafaia sein politisches Programm klar, in einer Hasspredigt voller Verschwörungsmythen:

O-Ton 8, Pastor Malafaia

„Die Kultur des Marxismus kontrolliert das Denken. Instagram, Facebook kontrollieren alles. Sie haben Angst. Sie kontrollieren alles. Es ist schlimmer als die Diktatur. […] Wir sind mehr als 30 Prozent der Bevölkerung. Wir sind eine Macht, die Evangelikalen. Und wir werden Einfluss nehmen!“

Pastor Malafaia hat dreieinhalb Millionen Follower auf Instagram. Sein Vermögen beträgt mehr als eine Millionen Euro. Und er steht hinter Bolsonaro, trotz schlechter Umfragewerte. Er ist ihm treuer als die meisten anderen Pfingstkirchen-Führer. Die waren bisher bekannt dafür, dass sie zuerst gegen „Sozialisten“ wettern – danach aber gut mit ihnen zusammenarbeiten. Auch um die eigenen Geschäfte nicht zu gefährden. Während Bolsonaros Amtszeit mussten sie kaum Steuern zahlen. Und während Corona durften sie weiter Gottesdienste feiern. Aber es ist offen, ob sie auch noch zu Bolsonaro halten, wenn der verliert.

Heute Abend sind den Gläubigen diese Fragen wohl eher unwichtig. Durch den Gesang sind einige inzwischen wie in Trance gefallen, manche weinen und werden nach vorn geholt. Sie bekommen ein kleines Geschenk. Das neue Buch des Pastors. Politik war heute kein Thema.

Autor: Carsten Wolf

Synchronsprecher*in: Fabio Ghelli, Donata Hasselmann

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