Dreimal ganz oben

Erschienen bei: Krautreporter, Juli 2015

Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Erst wenn die Kinder der Gastarbeiter die gleichen Chancen bekommen. Die unwahrscheinliche Geschichte eines Aufstiegs.

„Dein Vater hatte einen Autounfall. Es geht ihm schlecht, sehr schlecht.“ Nie wird Nuran Ceri diese drei Monate vergessen, in denen ihr Vater im Koma lag. Das bange Warten, die Krankenhausbesuche, und immer die Frage: Wer wird jetzt das Geld verdienen? Die Mutter? Eine anatolische Hausfrau und Analphabetin, die nach 16 Jahren noch immer kein Deutsch kann?

Finstere Jahre der Bildungspolitik

Diese Geschichte beginnt 1981 im Ratinger Stadtteil Tiefenbroich, einem Arbeiterviertel in der Einflugschneise des Düsseldorfer Flughafens, eingeklemmt zwischen Autobahn und Gleisen, in einem Haus in der Sohlstättenstraße. Im Erdgeschoss ist die „Grill-Stube“, Familie Ceri wohnt in der ersten Etage, acht Leute teilen sich zwei Zimmer und eine Küche. Das Klo ist auf halber Treppe, ein Bad gibt es nicht. Alle schlafen im selben Zimmer, sie essen aus einem Topf.

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In der Schule werden die Kinder der Gastarbeiter oft „Schwarzköpfe“ gerufen, wegen ihrer Haarfarbe. Bildungspolitisch sind es finstere Jahre. Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, weist auf die „extrem niedrige Erfolgsquote“ der Ausländerkinder hin: „So dass ohne eine gravierende Verbesserung der Situation nahezu die Gesamtheit der ausländischen Kinder und Jugendlichen in die Gefahr gerät, weiter in eine totale Paria-Rolle hineinzuwachsen“, also als Ausgestoßene in der deutschen Gesellschaft zu leben. Als die Entscheidung ansteht, auf welche weiterführende Schule Nuran gehen soll, schicken ihre Eltern sie auf die Hauptschule. Das klingt wichtig, und dort kann ihr großer Bruder sie beschützen. Nurans Grundschullehrer mischen sich nicht ein.

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Die Familie Ceri im Jahr 1972; Nuran sitzt neben der Mutter

Dann kommt der Autounfall ihres Vaters. Nach monatelanger Reha kommt er zwar wieder auf die Beine, aber die Welt von Nurans Kindheit ist erschüttert. Sie will jetzt Verantwortung übernehmen. Deswegen geht sie immer häufiger abends mit ihrer Mutter putzen. Nicht eine Stunde, wie offiziell abgerechnet, sondern drei, vier Stunden.

Während eines Stromausfalls 1989 lernt die achtzehnjährige Nuran eines Abends den Geschäftsführer einer Firma kennen, bei der sie vertretungsweise putzt. „Wir sind sehr zufrieden und würden Sie gern behalten.“ Nur ein Problem: Er dürfe keine Privaten anstellen. Ein paar Wochen vergehen, dann der Anruf:„Ich hab’s, wir machen aus dir eine Firma.“ Er hilft ihr beim Papierkram, ein paar Wochen später wird das Reinigungsunternehmen Ceri-Service registriert.

18.000 Mark Umsatz im Monat

Über ein Jahr hält Nuran ihr Unternehmen geheim, ihrer Familie erzählt sie nichts. Tagsüber schließt sie Verträge im Businesskostüm ab, abends geht sie weiter putzen. Nachts sitzt sie zu Hause stundenlang vor dem Rechner und macht die Buchhaltung. Wenn ihr Vater sie da sitzen sieht, macht er Späße. Irgendwann platzt Nuran der Kragen: „Weißt du, wieviel du verdienst? 1.500 Mark! Willst du wissen, was ich verdiene?“ 18.000 Mark Umsatz im Monat zeigen die Belege, die sie ihrem Vater auf den Wohnzimmertisch legt.

Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land

Nuran Ceri sieht sich selbst als „vollkommen deutsch“. Noch besser gefällt es ihr, wenn man sie eine „neue Deutsche“ nennt. Das sei typisch, sagt die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan. Für „Postmigranten“ sei Deutschsein inzwischen eine Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land.

Im deutschen Bildungssystem wird inzwischen viel Wert auf die frühkindliche Bildung gelegt, es gibt fast überall Ganztagsschulen und seit Kurzem sogar das erste Studienwerk für begabte muslimische Studenten, Avicenna. Alles Veränderungen, die in besonderem Maße den Einwandererkindern zugutekommen. Ist damit der Bildungsfluch gebrochen, den es bisher bedeutete, wenn man in Deutschland das Kind von bildungsfernen Eltern war und einen türkischen Namen trug? Noch lange nicht. Das zeigt das Beispiel von Nuran Ceris Tochter.

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Ein Gedanke zu “Dreimal ganz oben

  1. Die kostspielige Privatschule ist das Bergische Internat in Hochdahl. Ich erinnere mich an eine sehr nette und kluge Schülerin. Gut, dass ein mutiger Journalist darüber schriebt.

    Bernd Kesseler, Schulleiter am Bergischen Internat

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