Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Erst wenn die Kinder der Gastarbeiter die gleichen Chancen bekommen. Die unwahrscheinliche Geschichte eines Aufstiegs.
„Dein Vater hatte einen Autounfall. Es geht ihm schlecht, sehr schlecht.“ Nie wird Nuran Ceri diese drei Monate vergessen, in denen ihr Vater im Koma lag. Das bange Warten, die Krankenhausbesuche, und immer die Frage: Wer wird jetzt das Geld verdienen? Die Mutter? Eine anatolische Hausfrau und Analphabetin, die nach 16 Jahren noch immer kein Deutsch kann?
Es ist die Geschichte eines sozialen Aufstiegs: Damals, im Jahr 1984, beschloss Nuran Ceri, ihre Familie zu retten. Sie fing an zu arbeiten, da war sie 13. Zuerst ging sie putzen, dann gründete sie heimlich eine Reinigungsfirma, wurde Chefin. Irgendwann hatte sie 3.000 Mitarbeiter im gesamten Ruhrgebiet. Nebenbei eroberte sie mit mehreren Musikvideos die türkischen Charts. Es ist eine unwahrscheinliche Geschichte. Auch weil Deutschland seit Generationen das Potenzial von türkischen Einwandererkindern verschleudert. Und das ihrer Kinder, die heute zur Schule gehen.
Ein Grund, warum die Integrationsdebatte der Realität hinterherhinkt: Positive Geschichten werden seltener gedruckt und gelesen. Ich hatte die Geschichte von Nuran Ceri mehreren Magazinen angeboten. Die Reaktionen waren übereinstimmend: Aufstiegsgeschichten von Migranten? – Das sei einfach “zu positiv, zu politisch korrekt“. Der Erfolgsfall der Integration ist nicht berichtenswert.
Finstere Jahre der Bildungspolitik
Diese Geschichte beginnt 1981 im Ratinger Stadtteil Tiefenbroich, einem Arbeiterviertel in der Einflugschneise des Düsseldorfer Flughafens, eingeklemmt zwischen Autobahn und Gleisen, in einem Haus in der Sohlstättenstraße. Im Erdgeschoss ist die „Grill-Stube“, Familie Ceri wohnt in der ersten Etage, acht Leute teilen sich zwei Zimmer und eine Küche. Das Klo ist auf halber Treppe, ein Bad gibt es nicht. Alle schlafen im selben Zimmer, sie essen aus einem Topf.
Nuran ist das Nesthäkchen und wird von der Mutter verhätschelt, trotzdem ist sie neugierig. Ihre Hausaufgaben macht sie auf dem Wohnzimmertisch. Wenn Besuch kommt, schreibt sie auf dem Boden weiter. „Wozu brauchst du das denn? Wir gehen doch eh zurück“, sagt der Vater. Abends schläft Nuran manchmal weinend ein, weil sie eine Aufgabe nicht lösen kann.
In der Schule werden die Kinder der Gastarbeiter oft „Schwarzköpfe“ gerufen, wegen ihrer Haarfarbe. Bildungspolitisch sind es finstere Jahre. Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, weist auf die „extrem niedrige Erfolgsquote“ der Ausländerkinder hin: „So dass ohne eine gravierende Verbesserung der Situation nahezu die Gesamtheit der ausländischen Kinder und Jugendlichen in die Gefahr gerät, weiter in eine totale Paria-Rolle hineinzuwachsen“, also als Ausgestoßene in der deutschen Gesellschaft zu leben. Als die Entscheidung ansteht, auf welche weiterführende Schule Nuran gehen soll, schicken ihre Eltern sie auf die Hauptschule. Das klingt wichtig, und dort kann ihr großer Bruder sie beschützen. Nurans Grundschullehrer mischen sich nicht ein.
Die Familie Ceri im Jahr 1972; Nuran sitzt neben der Mutter
Dann kommt der Autounfall ihres Vaters. Nach monatelanger Reha kommt er zwar wieder auf die Beine, aber die Welt von Nurans Kindheit ist erschüttert. Sie will jetzt Verantwortung übernehmen. Deswegen geht sie immer häufiger abends mit ihrer Mutter putzen. Nicht eine Stunde, wie offiziell abgerechnet, sondern drei, vier Stunden.
Weil ihre Noten an der Hauptschule gut sind, entscheidet sich Nuran, an die Realschule zu wechseln. Ihre Lehrer raten ihr ab: „Mach doch lieber eine Lehre, es können doch nicht alle was werden.“ Aber Nuran bleibt stur. An der Realschule ist sie die einzige Türkin in der Klasse. Sie macht ihren Abschluss und beginnt eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Erst im Behandlungs-zimmer merkt sie, dass sie kein Blut sehen kann. Sie beißt die Zähne zusammen. „Den Mund schön weit auf.“ Sie isst immer weniger. Zusammenbruch. Kündigung. Abends geht sie weiter putzen.
Laut Bildungsforscher Jens Schneider von der Universität Osnabrück gibt es zwei Punkte, an denen sich Bildungsverläufe von Migranten meistens entscheiden: Zum einen in der vierten Klasse, bei der frühen Entscheidung zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Zum anderen beim Übergang ins Berufsleben. Bei Nuran ist beides schiefgelaufen. Und das deutsche Bildungssystem gibt Einwandererkindern normalerweise keine zweite Chance. Nur ein Zufall brachte sie zurück auf die Erfolgsspur.
Während eines Stromausfalls 1989 lernt die achtzehnjährige Nuran eines Abends den Geschäftsführer einer Firma kennen, bei der sie vertretungsweise putzt. „Wir sind sehr zufrieden und würden Sie gern behalten.“ Nur ein Problem: Er dürfe keine Privaten anstellen. Ein paar Wochen vergehen, dann der Anruf:„Ich hab’s, wir machen aus dir eine Firma.“ Er hilft ihr beim Papierkram, ein paar Wochen später wird das Reinigungsunternehmen Ceri-Service registriert.
18.000 Mark Umsatz im Monat
Über ein Jahr hält Nuran ihr Unternehmen geheim, ihrer Familie erzählt sie nichts. Tagsüber schließt sie Verträge im Businesskostüm ab, abends geht sie weiter putzen. Nachts sitzt sie zu Hause stundenlang vor dem Rechner und macht die Buchhaltung. Wenn ihr Vater sie da sitzen sieht, macht er Späße. Irgendwann platzt Nuran der Kragen: „Weißt du, wieviel du verdienst? 1.500 Mark! Willst du wissen, was ich verdiene?“ 18.000 Mark Umsatz im Monat zeigen die Belege, die sie ihrem Vater auf den Wohnzimmertisch legt.
Die Firma wächst weiter. Nuran holt jetzt auch ihre drei Brüder mit ins Boot. „Wir aßen weiter zu Hause aus einem Topf, aber es ging nur noch ums Geschäft, Geschäft, Geschäft.“ Zwischen den Geschwistern entbrennt ein Wettkampf, ständig akquirieren sie neue Aufträge, sie schlafen kaum noch. Die Eltern verkaufen ihre Grundstücke in der Türkei und investieren alles in die Firma. Nach vier Jahren ist die Firma Ceri eines der größten Reinigungsunternehmen im Ruhrgebiet, mit fast 3.000 Mitarbeitern.
Nuran kam gut an bei den Kunden, schlanke Figur, blondierte Haare: „Alle dachten immer, ich wäre Französin, wegen Chérie, die waren dann überrascht, wenn ich sagte, ich komme aus der Türkei.“ 1993 ringt sich die CDU erst langsam dazu durch, hier geborenen Einwandererkindern die deutsche Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Sofern sie die ihres Herkunftslandes ablegen.
Die Ceris sind stolz auf ihre erfolgreiche Tochter. Nur eins fehlt noch: „Nuran, du musst endlich heiraten.“ Sie fliegen mit ihr in die Türkei: „Unter zehn Dummen durfte ich mir einen Dummen aussuchen.“ Die Wahl geht schief. Nuran lässt sich scheiden und verlässt die Firma, die sie mit ihren Brüdern aufgebaut hat.
In den darauffolgenden Jahren gründet Nuran Ceri zwei weitere erfolgreiche Firmen. „Ich habe wieder von vorn angefangen und bin wieder ganz oben angekommen. Da muss irgendwas in mir drin sein.“ Heute leitet sie eine Firma mit 400 Mitarbeitern. Man könnte es Instinkt nennen oder den Wunsch, für Leistung geliebt zu werden. Jedenfalls etwas, was die deutschen Lehrer in ihr nicht erkannt haben: „Ich hätte sonstwas werden können.“ Ihr Abitur nachzuholen, dafür blieb ihr nie die Zeit, von einem Studium ganz zu schweigen.
Die Undurchlässigkeit des deutschen Bildungssystems hat für die zweite Generation mit gering gebildeten Eltern aus der Türkei vor allem zwei Folgen, sagt der Bildungsforscher Schneider: Zu viele verließen die Schulen ganz ohne Schulabschluss, und zu selten erlangten die Erfolgreichen einen höheren Bildungsabschluss und damit die Möglichkeit, Ingenieur oder Ärztin zu werden. Während in Frankreich aus dieser Gruppe jeder Dritte einen Hochschulabschluss erreicht, sind es in Deutschland gerade einmal fünf Prozent.
Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land
Nuran Ceri sieht sich selbst als „vollkommen deutsch“. Noch besser gefällt es ihr, wenn man sie eine „neue Deutsche“ nennt. Das sei typisch, sagt die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan. Für „Postmigranten“ sei Deutschsein inzwischen eine Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land.
Vieles hat sich geändert in den letzten Jahrzehnten. Nuran Ceri lebt inzwischen glücklich mit ihrem zweiten Mann, einem Türken, in einer mondänen Eigentumswohnung im Düsseldorfer Nobelviertel. Er ist Sänger und hat mit ihr als Managerin einige Top-Hits in den türkischen Charts gelandet. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das erste Musikvideo des Sängers Kaan, gedreht in der Düsseldorfer City, ein Riesenerfolg in der Türkei
Im deutschen Bildungssystem wird inzwischen viel Wert auf die frühkindliche Bildung gelegt, es gibt fast überall Ganztagsschulen und seit Kurzem sogar das erste Studienwerk für begabte muslimische Studenten, Avicenna. Alles Veränderungen, die in besonderem Maße den Einwandererkindern zugutekommen. Ist damit der Bildungsfluch gebrochen, den es bisher bedeutete, wenn man in Deutschland das Kind von bildungsfernen Eltern war und einen türkischen Namen trug? Noch lange nicht. Das zeigt das Beispiel von Nuran Ceris Tochter.
2008 stand die Familie vor der Entscheidung, auf welche Schule die Tochter gehen sollte. Und da waren sie wieder, die Geister, die Nuran noch aus ihrer eigenen Schulzeit kannte: „Ihr Kind ist ein Hauptschulkind, das Kind ist kein Realschulkind“, sagte eine Lehrerin zu ihr. Da zögerte Nuran Ceri keine Sekunde. Sie nahm ihre Tochter von der Schule und gab sie auf eine kostspielige Privatschule. Heute steht ihre Tochter kurz vor dem Abitur, als Jahrgangsbeste. Berufswunsch: Lehrerin für Politik und Wirtschaft.
Die kostspielige Privatschule ist das Bergische Internat in Hochdahl. Ich erinnere mich an eine sehr nette und kluge Schülerin. Gut, dass ein mutiger Journalist darüber schriebt.
Bernd Kesseler, Schulleiter am Bergischen Internat
Die kostspielige Privatschule ist das Bergische Internat in Hochdahl. Ich erinnere mich an eine sehr nette und kluge Schülerin. Gut, dass ein mutiger Journalist darüber schriebt.
Bernd Kesseler, Schulleiter am Bergischen Internat
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